Äußere Scheinwerfer und inneres Leuchten: Einen der seltenen Auftritte des spirituellen Lehrers Sadhguru nutzte unsere Autorin für eine Begegnung mit großer Weisheit, nicht gerade wenig Tamtam und einem faszinierenden Bart.
Sonntag morgen um acht, ich habe schlecht geschlafen und man sieht es mir sicher an. Dennoch springe ich freudig aus dem Bett. Heute werde ich einen echten Guru treffen, einen Erleuchteten, und das nicht nur im Berliner Tempodrom, wo Sadhguru über inneren Wandel sprechen wird, sondern persönlich. Ein halbstündiges Interview, nur der Guru und ich. Gut vorbereitet, habe ich viel gelesen, YouTube-Videos geguckt, zahlreiche Hilfsprojekte seiner Isha Foundation recherchiert, meine Haare gewaschen und Fingernägel gefeilt. Jetzt noch schnell Abdeckstift unter die müden Augen schmieren. Geht schon. Das Leuchten kommt schließlich von innen. Sadhguru, bürgerlich Jaggi Vasudev, braucht wahrscheinlich nicht einmal wache Fragen, um sich eloquent zu allen Themen des Lebens zu äußern. Schließlich tut der 60-jährige das gern und überall, auf Bühnen, in Talkshows, bei den Vereinten Nationen, beim Weltwirtschaftsgipfel und sogar aus dem Auto, während er eine Rallye durch Indien fährt. Heute soll es um sein neues Buch gehen, das in den USA bereits auf den Bestsellerlisten rangiert: „Die Weisheit eines Yogi – Wie innere Veränderung wirklich möglich ist“ (O.W. Barth, ca. 20 Euro). Ich schalte das Handy ein. Die Nachrichten springen mich an. Alle Interviews am Vormittag sind abgesagt, Sadhguru fühle sich nicht gut. Der innere Glanz, den mir die Aussicht auf ein exklusives Gespräch verliehen hat, erlischt. Somit bin ich eine von zweitausend Besuchern in einer großen Halle, die auf den Auftritt eines Gurus warten. Üben wir uns also in Demut und machen das Beste draus.
Neben Sadhguru mit seinem imposanten Turban sitzt als Gesprächspartnerin Palina Rojinski, Moderatorin und Schauspielerin. Warum nun ausgerechnet Palina, wird im Publikum getuschelt? Man kann nur mutmaßen, dass die „Influencerin“ die Brücke zwischen indischer Weisheit und westlicher Schnelllebigkeit schlagen soll. Angesichts des Erleuchteten wirkt die sonst stets schlagfertige Palina nun erstaunlich still. Sadhguru scheint sich unterdessen pudelwohl zu fühlen, zieht eine Sandale aus, klemmt sich den Fuß im halben Lotus unter und beantwortet souverän die erste Frage: „Was bedeutet der Titel ‚Sadhguru‘?“ Das sei kein Titel, sondern eine Beschreibung. Sadhguru hieße „ungebildeter Guru“. Er habe sich nie angestrengt, etwas wissen oder sein zu wollen, aber er habe sich auch nie vor irgendetwas verschlossen. „In allem steckt Gnade.“ Der Guru gluckst und lacht gerne und bezieht die Zuschauer oft mit ein: „Isn’t it so?“ Ich schaue mich verstohlen um. Um die Bühne herum tummeln sich viele freiwillige Helfer. Die Isha Foundation habe weltweit rund 7000 Volunteers, heißt es. Oft sind sie jung, nicht selten schön, ihre Augen schimmern, ihre Gesichter leuchten, sie fassen sich gerne behutsam an den Armen und flüstern sich wichtige Botschaften zu. Sie wirken wie eine Heerschar von Engeln, die beflissen durch den Raum flattern, immer scheint es um die Sache zu gehen, darum, die Botschaft zu verbreiten.
Die Botschaft scheint anzukommen. Die annähernd zweitausend Besucher aus ganz Europa raunen, klatschen und stehen auf, wenn es angezeigt ist. Auf der Bühne wird über die Yogaszene gesprochen. „Spiritualität kommt in dein Leben, weil du dich plötzlich entspannst, nicht weil du auf einen Trend aufgesprungen bist.“ Das Problem sei, dass wir ständig auf der Suche seien. „Wenn nicht gerade nach Bewusstsein, dann nach Kokain,“ sagt er. Wenn die Spiritualität einen jedoch „berühre“, würde die Suche im Inneren beginnen. Zusammengefasst geht es wohl darum, dass wir uns genau dorthin wenden und einen kleinen Raum zwischen „body and mind“ entstehen lassen. Wenn wir erfahren, dass wir weder unser Körper noch unsere Gedanken oder unsere Gefühle seien, sei das der Ausweg aus jedem Schlamassel. Laut Sadhguru ist es möglich, sich durch Yoga zu wandeln und dabei auch noch in jeder Lebenslage voller Freude zu sein.
Gerne erzählt er dazu, wie er nach einem Motorradunfall auf dem Land eine Operation am Bein ohne Narkose still über sich hat ergehen lassen. Man habe ihn gefragt, ob er nicht fürchterliche Schmerzen habe. „Natürlich!“, war seine Antwort. Er habe schreckliche Schmerzen, warum also zusätzlich noch leiden? Mit anderen Worten: Schmerz ist eine reale Erfahrung, Leiden hingegen eine persönliche Entscheidung. Im Anschluss an das Gespräch wird meditiert. Alle schließen die Augen. Um mich herum sehe ich zum Himmel geöffnete Handflächen und Gesichter. Dann schließe auch ich die Augen und lasse mich auf die Zauberreise ein, die Sadhguru durch abwechselndes Trommeln, Pfeifen, Zischen und leises Sprechen herstellt. Wir werden aufgefordert, uns nicht zu erklären, was gerade passiert. „Das ist Mystik und die menschliche Natur, die wir hier erforschen wollen.” Ich kann nur sagen, dass es sich schön anfühlt, ein bisschen wie Reisen in ein fernes Land in einer anderen Zeit. Nach der Übung darf das Publikum Fragen stellen. Ein Mittvierziger, der es offenbar in seinem Leben zu etwas gebracht hat, brüstet sich mit seinen Besitztümern und Erfolgen. Er sei halt „sehr, sehr ehrgeizig“ und fühle sich toll dabei. Wo denn das Problem sei? Sadhguru hat darauf eine simple Antwort. „Sie sind nicht ehrgeizig genug.“ Er erläutert, dass es nicht darauf ankomme, Teile der Welt zu besitzen, sondern das gesamte Universum sein Eigen zu nennen und sich daran zu erfreuen. Das Publikum hat etwas zum Nachdenken und der Erfolgsverwöhnte eine neue Ambition. Am Ende des Events geht Sadhguru durch die Reihen und verteilt seinen Segen, um abschließend von der Bühne herunter seine Bücher zu signieren. Das Bild wirkt auf mich wie Jesus und seine Jünger. Bevor ekstatisch Tanzende auf die Bühne springen, verlasse ich den Saal, denn plötzlich piept mein Handy wieder: Es soll jetzt doch noch Interviews geben. Auf ins Abenteuer also!
Ich werde mit einer Kollegin in einen kargen Raum geschoben, dann kommt der Guru und setzt sich uns gegenüber. Er trinkt Tee und entschuldigt sich wie ein Gentleman: „You don’t mind me finishing this tea?“ Er scheint alle Zeit der Welt für uns zu haben. Wir kommen auf den ambitionierten Mann aus dem Publikum zu sprechen. Sadghurus Botschaft hierzu ist einleuchtend. Unsere heutige Gesellschaft sei zwanghaft aktionistisch. Lebensglück wird nur noch über das, was wir machen, erreichen oder haben, definiert – allerdings nur, um das Erreichte gleich wieder über den Haufen zu werfen. Lebensglück finden wir aber nur in uns selbst. „Erst wenn ich mich absolut freudvoll und ekstatisch in mir selbst fühle, entsteht echtes Wohlbefinden.“
Wir sind mitten im Thema. Interessanterweise verdammt er das manchmal etwas eitle „Studioyoga“ bei uns nicht. Man müsse dort ansetzen, wo denn sonst? Nun spricht er zu mir als Yogalehrende: Jeder, der in der Yogawelt unterwegs sei, habe die Verantwortung, Bewusstsein zu schaffen.
„Mit Yoga berühren wir eine Dimension, die unser Leben für etwas viel, viel Größeres öffnen kann.“
„Deine grundlegende Aufgabe ist es, die Menschen zum Bewusstsein zu führen – nicht zu Selbstbewusstsein oder zum Unbewussten, sondern zum Bewussten.” Hatha Yoga dient seiner Meinung nach dazu, das System auf die weiterführenden Aspekte des Yoga wie Meditation, Lebensführung und Energiearbeit vorzubereiten. Es könne jedes System befähigen, das steigende Bewusstsein in einer gesunden Weise zu halten. Letztendlich gehe es nicht darum, sich zu drehen und von der Decke zu hängen, sondern darum „das Licht in uns aufzudrehen,“ damit wir immer mehr und immer klarer sehen. „Mit Yoga berühren wir eine Dimension, die unser Leben für etwas viel, viel Größeres öffnen kann.“ Und auf diesem Weg sei jeder Schmerz, mit dem ein Schüler komme, ein gewaltiges Geschenk. Rückenschmerzen seien ein fantastischer Motor, um uns auf den Pfad der Erleuchtung zu bringen.
Aber auch ganz schön viel Verantwortung für eine einzelne Lehrerin, denke ich. Mein bescheidenes System ist langsam randvoll mit Eindrücken. Doch es wird noch einmal brisant: Auf Umweltthemen angesprochen, hält Sadhguru ein feuriges Plädoyer für den Planeten. Er sieht im starken Bevölkerungswachstum den Hauptverursacher für Umweltschäden, Not und Elend. Es gäbe aber ein probates Mittel, hier gegenzusteuern. Die Menschen müssten sich bewusst dafür entscheiden, weniger Kinder zu bekommen. Stolz erwähnt er die fast 5000 jungen Paare, die in seiner Isha Foundation genau das vorleben und kinderlos bleiben. Nun gut. Hier kann ich Sadghuru nur zum Teil folgen. Ich versuche, seine Sichtweise zu verstehen. Überbevölkerung ist in seinem Land allgegenwärtig, er sucht nach nachhaltigen Lösungen. Die Isha Foundation hilft aber auch ganz konkret. Mit seinem Projekt „Green Hands“ wurden bereits 27 Millionen Bäume in Tamil Nadu gepflanzt, außerdem lässt er in ländlichen Regionen Montessori-Schulen bauen und Yoga im Gefängnis unterrichten. Respekt.
Wir verabschieden uns mit einem IPhone-Shot auf dem Sofa. Ich kann nicht anders, als ihn mir von der Seite anzugucken. Er flüstert: „Schau nicht auf mich, sondern in die Kamera!“ Ich gestehe, dass mich sein Bart fasziniert. Wir lachen gemeinsam. Ich gehe aus dem Gespräch so aufgeladen, als hätte man mich in eine Steckdose gesteckt. In der Nacht schlafe ich trotzdem sofort ein. Im Traum befinde ich mich am Fuß eines bewaldeten Berges. Aus der Ferne erklingt eine schöne Melodie, die immer eindringlicher wird. Ich wache mitten in der Nacht auf und habe eine Art Mantra auf den Lippen. Morgens google ich als erstes Sadhgurus Tempelanlage in Indien, die genauso aussieht wie in meinem Traum und lese, dass dort Musik komponiert wird. Klingt wie ausgedacht, ist es aber nicht.